Biomarkt in Mainz   Foto: Alnatura/Jonas Werner HohenseeManfred Weber, Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europaparlament, bekommt Post: Prominente Persönlichkeiten der deutschen Lebensmittelwirtschaft fordern in einem offenen Brief, Gentechnik-Lebensmittel auch in Zukunft kennzeichnen zu lassen und damit die Wahlfreiheit der Verbraucher:innen zu erhalten. Bisher verlangen große Teile der EVP, die Kennzeichnung für die meisten Produkte aus neuen gentechnischen Verfahren (NGT) komplett abzuschaffen und diese Verfahren auch für Bio-Lebensmittel zuzulassen. In ihrem Schreiben machen die Unterzeichnenden deutlich, dass es wesentlich von der EVP abhänge, „ob bei Produkten neuer Gentechnik für Europas Verbraucherinnen und Verbraucher sowie Wirtschaftsbeteiligte auch in Zukunft Transparenz und Wahlfreiheit gelten“. Dies sei nur mit einer umfassenden Kennzeichnung und klaren Koexistenzregelungen möglich. Beides wollen die EU-Kommission großenteils und Teile der EVP komplett abschaffen. Dies würde dazu führen, dass 94 Prozent aller mit neuer Gentechnik erzeugten Produkte (NGTs der Kategorie 1) ungekennzeichnet blieben und damit am Markt als solche nicht erkennbar wären. Die Zahl 94 stammt aus einer aktuellen Studie des Bundesamtes für Naturschutz. „Wir wollen weiterhin Produkte ohne Einsatz von Gentechnik produzieren und anbieten können“, schreiben die Unternehmen. Sie weisen darauf hin, dass 2022 allein in Deutschland mit konventionellen Lebensmitteln mit dem „Ohne Gentechnik“-Siegel 16 Milliarden Euro erwirtschaftet und im Biosektor 15,3 Milliarden Euro umgesetzt wurden. Erstunterzeichner des Briefes sind der Nudelhersteller Alb Gold, das Biohandelshaus Alnatura, die Andechser Bio-Molkerei, der Tiefkühlspezialist Frosta sowie die Drogeriemarktkette dm, die unter anderem Bio-Lebensmittel in Eigenmarke anbietet. Der Verband Lebensmittel ohne Gentechnik, Deutschlands führender Ökoanbauverband Bioland, die Assoziation ökologischer Lebensmittelhersteller und der Bundesverband Naturkost Naturwaren unterstützen die Unternehmen bei ihrer Initiative. Weitere Unternehmen der Branche sind eingeladen beizutreten. „Bei dm ist es uns wichtig, dass uns Menschen weiterhin die freie Wahl überlassen bleibt, ob wir gentechnisch veränderte Nahrungsmittel produzieren und konsumieren wollen“, begründet Kerstin Erbe, Geschäftsführerin Produktmanagement, das Engagement des Unternehmens. „Dafür brauchen wir eine klare Kennzeichnung als Entscheidungsgrundlage.“ Auf die Nachfrage des Infodienstes, was dm unternehmen werde, um seine Kundinnen und Kunden schnell über die geplante Abschaffung der Kennzeichnungspflicht für NGT-Produkt zu informieren und ihnen Aktionsmöglichkeiten aufzuzeigen, antwortete Erbe ausweichend: „Zum jetzigen Zeitpunkt hoffen wir, dass die Botschaft unseres offenen Briefes ein möglichst großes Echo erfährt und bei den Verantwortlichen der EVP-Fraktion und insbesondere Herrn Weber verfängt. Seine Reaktion möchten wir abwarten, bevor wir nächste Schritte erwägen.“ Nächster Meilenstein im europäischen Gesetzgebungsverfahren ist der 24. Januar, wo der federführende Umweltausschuss des Europaparlaments seinen Bericht verabschiedet. Dort kämpft die EVP-Abgeordnete Jessica Polfjärd als Berichterstatterin dafür, die Kennzeichnung von NGT-Saatgut und -Pflanzen komplett abzuschaffen und diese auch für Bio-Produkte zuzulassen. Dabei sei die Meinungsbildung in der EVP nicht abgeschlossen und die Standpunkte lägen innerhalb der Fraktion weit auseinander, berichtete Jan Plagge, Präsident des Bio-Dachverbandes Ifoam Organics Europe, bei der Vorstellung des offenen Briefes. Als Beispiel nannte er den CDU-Europaabgeordneten Norbert Lins, Vorsitzender des Agrarausschusses, der die Zwangsgentechnifizierung der Biolandwirtschaft ablehne. Florian Faber, Geschäftsführer der österreichischen ARGE Gentechnik-frei, berichtete, dass die österreichische ÖVP, die ebenfalls der EVP angehört, den Kommissionsvorschlag insgesamt ablehne und versuche, politische Allianzen zu bilden, um ihn zu verhindern. Dabei geht es nicht nur um das Europaparlament, sondern auch um den Agrarministerrat, der am 23. Januar tagen wird. Hier versucht die neue belgische Präsidentschaft, eine Mehrheit für einen Vorschlag zu erreichen, der den Entwurf der EU-Kommission nur wenig ändert. Doch zahlreiche Staaten verlangen in Fragen der Kennzeichnung, Koexistenz und NGT-Patente strengere Regelungen (Der Infodienst berichtete). Während die österreichische Lebensmittelwirtschaft die NGT-Vorschläge der EU-Kommission laut Faber geschlossen ablehnt, sieht das in Deutschland anders aus. Mit dm hat sich neben Aldi und Rewe ein weiterer wichtiger Lebensmittelhändler für die Wahlfreiheit seiner Lieferant:innen und seiner Kund:innen stark gemacht. Dagegen unterstützen Edeka und die Schwarzgruppe mit Lidl und Kaufland den NGT-Vorschlag der Kommission und stehen hinter einem Positionspapier des Handelsverbandes Lebensmittel (BVLH), der (anders als noch im Februar 2023) keine Kennzeichnung und Risikoüberprüfung für NGT-Produkte mehr verlangt. Bis heute hat der Verband auf wiederholte Nachfragen nicht mitgeteilt, in welchem Gremium dieses Papier mit welcher Mehrheit verabschiedet wurde. Dem Vernehmen nach ist es im BVLH weiterhin umstritten. Keine Position zum NGT-Vorschlag der Kommission hat bisher die Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE) veröffentlicht. Sie hatte sich 2020 zusammen mit zahlreichen Verbänden der Agrarindustrie für eine Deregulierung der Gentechnik ausgesprochen, sich seither aber kaum mehr an der öffentlichen Diskussion beteiligt. [lf]