Die Europäische Kommission erwägt, die bis Dezember 2022 gültige Zulassung für das Herbizid Glyphosat befristet zu verlängern. Denn die europäische Lebensmittelbehörde EFSA will wegen der Menge des Materials erst im Sommer 2023 bewerten, ob der Unkrautvernichter gefährlich sein könnte. EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides äußerte sich „zutiefst besorgt darüber, dass sich die Bewertung von Glyphosat verzögert“, berichtete das Portal Euractiv.

Bisher war das Ende 2019 gestartete Zulassungsverfahren so getaktet, dass die Mitgliedsländer der Europäischen Union (EU) noch vor dem 15. Dezember 2022 auf Vorschlag der EU-Kommission hätten entscheiden können, ob das Totalherbizid weiter erlaubt werden soll. An diesem Tag endet die aktuelle Zulassung. Weil bei der Konsultation vergangenen Herbst so viele Beiträge eingegangen waren, worauf die Glyphosathersteller wiederum antworteten, sei viel mehr Material zu verarbeiten als erwartet, teilten EFSA und die EU-Chemikalienagentur ECHA am Dienstag mit. Deshalb sehen sich die Beteiligten nicht in der Lage, die neuen Erkenntnisse bis zum Jahresende zu sichten und zu bewerten. EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides sagte dem Portal Euractiv, dass sie das „große Interesse an dem Bewertungsprozess“ und die „wirklich beispiellose Anzahl“ von Beiträgen der Interessengruppen anerkenne. Sie habe die Behörden aber gebeten, „ihr Möglichstes zu tun, um ihre Arbeit so schnell wie möglich abzuschließen“.

Der neue Zeitplan sieht nun so aus: Der Ausschuss für Risikobeurteilung der ECHA wird die Gefahreneinstufung von Glyphosat auf seiner Plenarsitzung am 30. und 31. Mai erörtern. Die Ergebnisse gehen an die EFSA und sollen Ende Juli bis Mitte August 2022 veröffentlicht werden. Dann steht fest, ob die ECHA Glyphosat weiterhin als nicht krebserregend einstuft oder ihre Position ändert. Die vier Mitglieder der Bewertungsgruppe für Glyphosat (AGG) – Frankreich, Ungarn, die Niederlande und Schweden – wollen ihren 2021 vorgestellten Bericht (dRAR) „voraussichtlich bis zum 30. September 2022“ aktualisieren. Die EFSA will diesen Bericht und die ECHA-Einstufung dann im November und Dezember 2022 in sogenannten Peer-Review-Sitzungen mit Sachverständigen der Mitgliedstaaten diskutieren. Ihre „Schlussfolgerungen“ will sie im Juli 2023 fertigstellen und der EU-Kommission, den Mitgliedstaaten und den Glyphosatherstellern übergeben. Darin „wird die EFSA alle möglichen Risiken bewerten, die eine Exposition gegenüber Glyphosat für Menschen, Tiere und die Umwelt mit sich bringen könnte“, schrieb die Behörde. Darauf gründet die EU-Kommission dann ihren Vorschlag, ob das Herbizid neu zugelassen werden soll. Entscheiden müssen am Ende die Mitgliedsstaaten mit qualifizierter Mehrheit.

Nach dem neuen Zeitplan würden sie das voraussichtlich erst im Herbst 2023 tun, also ein dreiviertel Jahr nach dem Ende der bestehenden Zulassung. Damit stellt sich die Frage, was in der Zwischenzeit gelten soll. Die EU-Kommission werde vorschlagen, die aktuelle Zulassung befristet zu verlängern, zitierte das Portal Top Agrar eine Sprecherin. Voraussetzung sei allerdings, dass die EU-Behörden keine Anzeichen dafür fänden, dass die Zulassungskriterien für das Pestizid nicht mehr erfüllt sein könnten. Für das Pestizid-Aktions-Netzwerk (PAN) liegen diese Anzeichen bereits jetzt vor: Die EFSA habe schon genügend Beweise dafür erhalten, dass von Glyphosat ein inakzeptables Risiko für die Gesundheit der Menschen und die Umwelt ausgehe, so der Chemikalienbeauftragte bei PAN Europe, Gergely Simon, in einer Medieninformation. Sein Kollege Martin Dermine forderte die EFSA auf, das noch vor Ende des Jahres offiziell festzustellen, damit für alle Beteiligten klar ist, dass die aktuelle Zulassung nicht übergangsweise verlängert werden kann. PAN kritisierte das „Missmanagement der EFSA“ und lehnte jegliche Verlängerung der Glyphosat-Zulassung ab. Marius Stelzmann von der Coordination gegen Bayer-Gefahren sprach von einem Skandal: „Die EU hatte lange genug Zeit, über die Risiken und Nebenwirkungen von Glyphosat zu befinden.“

Die Glyphosathersteller in der Glyphosate Renewal Group (GRG) nehmen es gelassen. „Die GRG erkennt die Entscheidung zur Verlängerung des Genehmigungszeitraums an, da dies der EFSA zusätzliche Zeit gibt, den Verlängerungsantrag und alle relevanten wissenschaftlichen Erkenntnisse gründlich zu bewerten“, heißt es in einer Stellungnahme. Solche „Verfahrensverzögerungen zusammen mit einer Verlängerung des aktuellen Genehmigungszeitraums“ seien „Standardpraktiken des EU-Regulierungsprozesses“. Die GRG kennt sie bereits aus der Vergangenheit: Im Sommer 2016 verlängerte die EU-Kommission – mangels qualifizierter Mehrheit unter den Mitgliedsstaaten – die damalige Zulassung von Glyphosat um 18 Monate, bis Dezember 2017. Ende 2017 sorgte dann der damalige deutsche Agrarminister Christian Schmidt (CSU) unautorisiert für die nötige Mehrheit, um das Pflanzengift erneut für fünf Jahre zuzulassen – bis 15.12.2022. [lf/vef]EFSA, ECHA: Glyphosat: EFSA und ECHA aktualisieren Zeitpläne für Bewertungen (10.05.2022)Euractiv: EU-Agenturen verschieben Glyphosat-Gutachten auf Mitte 2023 (11.05.2022)Top Agrar: EU könnte aktuelle Glyphosat-Zulassung um ein Jahr verlängern (12.05.2022)PAN Germany: Entscheidung über Glyphosat um ein Jahr verschoben, Belastungen gehen weiter (12.05.2022)PAN Europe: EFSA announces it postpones its conclusions on glyphosate by one year: Citizens' health and the environment at risk! (11.05.2022)Coordination gegen Bayer-Gefahren: Behördenversagen – EU verschleppt Glyphosat-Entscheidung (12.05.2022)Infodienst: Glyphosatzulassung: Die Bewertung der Behörden steht zur Diskussion (24.09.2021)Infodienst: Glyphosatzulassung: alte Studien, altes Ergebnis? (22.06.2021)